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06/12/2020 15:54 published by Alexander (unknown) in Aachen / Aachen / Germany - #2.1.16.10.1.1.-20200612-2259

Premiere von "Tag Y" - eine Telefonperformance von Volkstheater Rampe in Stuttgart

ALLES IST ANDERS

So etwas gab es noch nie: Das Handy lenkt die einzelnen Theaterszenen wie ein Computer. Es ist eine ungewöhnliche Szenerie. In dieser Performance unternimmt der Besucher des Volkstheaters Rampe eine imaginäre Reise durch den Stadtraum. Der Innenraum des Theaters wird somit ausgeblendet und nach außen verlagert. Der Theatergast betrachtet die Stadt mit Hilfe der Handystimme von Tanja auf Distanz und tritt ihr auch nahe. Die einzelnen Bezirke Stuttgarts werden so akribisch erkundet. Dadurch  ergibt sich eine ganz neue Situation. Per Telefon meldet sich eine unbekannte Stimme. Man lässt ein Leben in Isolation Revue passieren. Gemeinsam wandern der Besucher und die Daheimgebliebene durch Stuttgart-Süd, das sich im Lauf des Spaziergangs immer wieder verändert. Ganz entfernt meint man das Rattern der Zahnradbahn zu vernehmen. Und man entdeckt konkrete Orte als Utopien. Fiktive Nachbarschaften werden ganz bewusst beobachtet. Man ruft Solidarität aus, erinnert an die revolutionären Rede Rosa Luxemburgs am Marienplatz. Man erfährt, dass dort ein riesiger Zirkusbau stand. Es gab auch Aufmärsche der SA, Hakenkreuzfahnen wurden aus den Häusern gehängt. Ganz langsam taucht man hier plötzlich in die Geschichte der Stadt ein. Der Platz wurde zum botanischen Gaerten erklärt und ist heute eine interessante "Arena des Südens" zwischen rauem Beton. Unter der künstlerischen Leitung von Nina Gühlstorff und Paula Kohlmann (künstlerische Mitarbeit: Philine Pastenaci; Kostüme: Justyna Koeke) erwachen auch die verborgenen historischen Orte Stuttgarts zum Leben. Man erfährt von Karl Heinrich  Ulrichs, der im 19. Jahrhundert als Homosexueller kein leichtes Leben hatte. Gleichzeitig kämpfte er in Stuttgart von 1870 bis 1880 für die Rechte von Homosexuellen. Im Jahre 1867 lösten seine Forderungen auf dem deutschen Jusristentag tumultartige Szenen aus. Die Handy-Reise durch Stuttgart konfrontiert den Theatergast auf ungewöhnliche Weise mit der Geschichte, weckt aber auch den Sinn für Blumen und exotische Pflanzen. In der Parkanlage auf der Filderstraße entdeckt der erstaunte Betrachter sogar ein Trampolin, auf dem er herumturnt. Mit Kreide kann man seine Erlebnisse  auf den Gehsteig schreiben, während Fahrradfahrer entgegenkommen. Plötzlich ist alles in Bewegung und die Handystimme gibt unentwegt Anweisungen. Die Idee für diese Theaterperformance ist sehr gut, birgt aber auf Dauer die Gefahr, dass die eigentliche Theateridee zu kurz kommt. Es ist einfach zu viel Realität im Spiel. Trotzdem nimmt man die Umgebung anders wahr wie sonst, entdeckt sogar eine Sängerin auf dem Balkon. Tanja verlangt, dass man die Gäste im Lokal auf Türkisch grüßt. Die Handystimme wirkt durchaus sympathisch, aber man gerät in eine erstaunliche emotionale Abhängigkeit und fühlt sich allmählich gar nicht mehr als "Theaterbesucher". Schließlich entführt Tanja den Theatergast sogar in einen kleinen botanischen Garten mit Überwachungskamera. Auf einem Stuhl liegen historische Fotos von Stuttgart. Zuletzt darf man eine schöne rote Nelke mitnehmen. Die sich ständig verändernde Welt wird von Tanja immer wieder mit der Vergangenheit konfrontiert - selbst die Hitler-Zeit wird so nicht ausgespart. Sie fühlt sich überall zu Hause, erzählt von ihrem Einser-Abitur. Alles ist anders. Zuletzt wird der "Tag Y" beschworen: Tanja möchte sich mit dem Theatergast am Marienplatz in genau einem Jahr wieder treffen. Und bevor man die  Person am anderen Ende der Leitung richtig wahrnimmt, hat sie schon aufgelegt und das einstündige Stück ist zu Ende. Fazit: Diesse neuartige Theatererfahrung lohnt durchaus einen Besuch - selbst wenn man sich auf ungewöhnliche "Experimente" einstellen muss.

ALEXANDER WALTHER