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05/21/2018 15:20 published by Alexander (unknown) in Aachen / Aachen / Germany - #2.1.16.10.1.1.-20180521-1902

Gastspiel "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace im Schauspielhaus Stuttgart

KALEIDOSKOP DER BESCHÄDIGTEN SEELE

Der Autor David Foster Wallace erhängte sich im Jahre 2008 46jährig, er galt als Wunderkind der US-Literatur. "Unendlicher Spaß" ist als Roman ein Kaleidoskop der menschlichen Seele, verschachtelte Erzählzentren werden minuziös beleuchtet. Die drei Brüder der Familie Incandenza stehen im Mittelpunkt des Geschehens: Hal, Wörterbuchwunder und Schüler an der Enfield Tennis Academy, sein älterer Bruder Orin, Punter beim American Football Team der Arizona Cardinals - und der körperlich schwer behinderte Mario, leidenschaftlicher Radiohörer und Filmemacher. "Unendlicher Spaß" ist ein Roman aus Scherben, der von Menschen erzählt, die immer wieder völlig unberechenbar agieren. Sie sind von ihrem Leben, ihren Gedanken und Gefühlen überfordert und überrascht, was die einzelnen Schauspieler in der suggestiven Regie von Thorsten Lensing (Mitarbeit Regie: Benjamin Eggers-Domsky) sehr gut zur Geltung bringen. Dies gilt nicht nur für Ursina Lardi als Hal Incandenza, Krankenschwester und Pamela, sondern auch für Andre Jung als Mario Incandenza und Devid Striesow als Orin Incandenza, Randy Lenz und U.S.S. Millicent Kent. Als verschleierte Radiomoderatorin Joelle Van Dyne überzeugt Jasna Fritzi Bauer ebenso wie als im blauen Sack gefangene Katze, Cracksüchtige und  undurchsichtige Nachbarin. Immer ist es das feinfühlige Spiel hinter der Maske, das hier fasziniert. Als Mitglied der "Liga der rüde Verunstalteten und Entststellten" rebelliert die junge Frau hier gegen die gesamte Welt. Heiko Pinkowski imponiert als cholerischer und zupackender ehemaliger Dieb und medikamentensüchtiger Don Gately, der an ein Ungeheuer aus dem Edgar-Wallace-Schocker "Die Tür mit den sieben Schlössern" erinnert. Die brutaleren Szenen werden dabei immer wieder durch komödiantische Einlagen aufgelockert. So wird der rabiate Dieb nach heftigen Wutanfällen von allen wieder umarmt. Einige der rastlosen Protagonisten leiden unter Depressionen sowie unter Alkohol-, Sex- und Schmerzmittelsucht. Die meisten scheitern unter der Last eines unerbittlichen Lebenszwangs, aus dessen Umkreis sie nicht entfliehen können. Das "Mobiliar" der Welt wird hier wiederholt zertrümmert. Der Universitätsbewerber kommentiert "Kierkegaards Einfluss auf Camus", was die Prüfungskommission kritisch beobachtet (facettenreich: Andre Jung, Devid Striesow, Sebastian Blomberg, Jasna Fritzi Bauer). Als Konservationalist verheddert sich Sebastian Blomberg glaubwürdig und nahezu rettungslos im Gestrüpp von Vorschriften und verrückt-absurden Lebensgesetzen. Die Personen werden ständig von Sorgen geplagt. Sie haben Angst, in der Trauertherapie durchzufallen. "Ich will darüber schreiben wie es sich anfühlt heute zu leben, statt davon abzulenken", sagte David Foster Wallace über seinen 1500-Seiten-Roman (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). Geburten, Todeskämpfe, Schneestürme sowie Liebes- und Trennungsgeschichten wechseln sich in geradezu atemloser Weise ab und verwirren den Zuschauer. Bildschöne Krankenschwestern können Vögeln nicht helfen, die mitten im Flug einen Herzinfarkt erleiden. Sebastian Blomberg macht dies als Vogel im Planschbecken plastisch deutlich. Hinter einer Betonmauer spielen sich psychologische Dramen ab. Andre Jung liefert zudem als Schweizer eine humorvolle Paraderolle ab. Es wird wild über Pornodarsteller und "byzantinische Erotika" philosophiert, Nase und Schnurrbart hängen schief im Gesicht: "Du denkst, ich onaniere die ganze Zeit!" Bei so viel Koitusakrobatik mutiert die Visage zum "Sex-Gesicht", werden die "Koitus-Augen zu Schweineschlitzchen", wird sogar "Fellatio" für eine italienische Oper gehalten. Es ist auch die Situationskomik, die dieses Stück immer wieder am Leben hält. Sebastian Blomberg schlüpft noch geschickt in die illustren Rollen von Roy Tony, Ortho Stice, Calvin Thrust, Radiomoderator und Geist. Andre Jung gibt sogar einer Trompete darstellerisches Leben. Man erfährt, dass die Leute bei ihrer Geburt aus der Gebärmutter herausgekratzt wurden. Gelegentlich geht die Handlung bis zur Schmerzgrenze, was durch das karge Bühnenbild von Gordian Blumenthal und Ramun Capaul (Kostüme: Anette Guther) aber abgeschwächt wird. Jasna Fritzi Bauer steigert sich als junges Mädchen konsequent in das Drama einer Totgeburt hinein: "Mein Baby ist vergiftet worden..." Der Traumtherapeut beleuchtet den Tod des Familienvaters in der Mikrowelle: "Ich fühle eine grenzenlose Leere." Zuletzt werden die einzelnen Protagonisten in einer Videobotschaft von Marc Stephan wie in Zeitlupe betrachtet. Heiko Pinkowski stellt als Don Gately plötzlich fest, dass er sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen kann: "Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so heiß gefühlt!" Er steigert sich in eine Psychose hinein und fällt dann wie tot um. Packende schauspielerische Leistungen entschädigen den Zuschauer hier für manchen szenischen Leerlauf. Gelegentlich scheint man tatsächlich zu spüren, wie "das Fleisch im Sandwich des Zimmers" gebraten wird. Phobisch lahmgelegte Männer sind im weiblichen Spinnennetz gefangen. Dieses Stück ist eine Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit dem Theater im Pumpenhaus Münster, dem Schauspielhaus Zürich, den Ruhrfestspielen Recklinghausen, der Sophiensaele Berlin, der Kampnagel Internationale Kulturfabrik Hamburg, "HELLERAU - Europäisches Zentrum der Künste", Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt/Main und Les Theatres de la Ville de Luxembourg. Für das gesamte Team gab es großen Jubel. 

ALEXANDER WALTHER