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04/14/2018 07:41 published by Alexander (unknown) in Aachen / Aachen / Germany - #2.1.16.10.1.1.-20180414-1885

Premiere "Amerika" nach Franz Kafka im Schauspielhaus Stuttgart

IM BANN DER HERZTÖNE

Mit Live-Kamera (Philip Roscher) und Video (Moritz Grewenig) werden bei dieser subtilen Inszenierung zu Beginn Herztöne auch visuell in den Mittelpunkt gestellt. Die Regie von Lilja Rupprecht stellt die Schauspieler in Großaufnahme ins Zentrum. Ein starkes Bikd. Der sechzehnjährige Karl Roßmann hat mit der Entdeckung von Amerika seine liebe Not. Ferdinand Lehmann stellt ihn als jungen Mann dar, der geradezu krampfhaft nach Glück, Erfolg und Reichtum sucht. Vor Jahren ist Karls Onkel ausgewandert und lebt hier als angesehener Geschäftsmann. Rahel Ohm bietet hierbei eine ausgezeichnete Charakterstudie dieses Onkels: "Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl sich vorläufig nicht auf das Geringste einzulassen..." Die seltsame amerikanische Welt erscheint bei dieser Inszenierung hinter silbernen Vorhängen. Karl muss sich ernsthaft darum bemühen, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Menschen treiben ihn in ein anderes Amerika, das keine unbegrenzten Möglichkeiten lässt. Er fühlt sich rasch eingeengt, was auch im Bühnenbild von Anne Ehrlich suggestiv zum Ausdruck kommt. Karl erlebt erschreckende Ungleichheit und heftige soziale Spannungen im Exil. Die soziale und wirtschaftliche Not nimmt eher zu als ab. Noch beim Anlegen begegnet Karl einem Schiffsheizer, dem Unrecht geschehen ist und für den Karl sich einsetzt: "Warum sagst du denn nichts?" Die dramaturgische Spannung bei der Inszenierung steigt dann unaufhörlich an. Karls Reise ist eine Reise ohne Wiederkehr. Die Leute, denen er begegnet, haben aber eine andere Vorstellung vom Leben. Im Schnelldurchlauf erzählt Lilja Rupprecht hier Karls Leben. Seine Eltern haben den Jungen auf die Fahrt über den Atlantik geschickt, nachdem er ein Dienstmädchen geschwängert hatte. Jede neue Bekanntschaft im Stück stellt für den jungen Karl eine ungeheure Herausforderung dar. Das Naturtheater von Oklahoma hat hier seine eigenen Gesetze. Der Heizer fragt ihn: "Warum haben Sie denn fahren müssen?" Und schon verliert Karl die Orientierung, was Ferdinand Lehmann überzeugend darstellt. "Ich werde dieses Haus sofort verlassen. Denn ich bin nur als Neffe meines Onkels aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe", resümiert Karl verbittert. Das Hotel Occidental möchte ihn als Liftjunge einstellen, was er nach anfänglicher Ablehnung auch annimmt: "Ja, frei bin ich und nichts schien ihm wertloser." Rahel Ohm gelingt es auch als Oberköchin und Brunelda ("Wo sind sie hin, die Mädchenjahre?") hervorragend, hintersinnige Charakterstudien mit geradezu satirischem Zuschnitt zu liefern, die tief im Gedächtnis bleiben: "Warum bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?" Da bleibe viele Fragen offen, die die Vorstellung auch gar nicht beantworten möchte. Das gehört aber durchaus zur Problematik dieser Inszenierung. Dass Karl seine eigene Identität opfern will, um in dieser Gesellschaft zu überleben, wird aber gut herausgearbeitet. Es werden alptraumhafte Szenen beschworen (Musik: Romain Frequency), wobei die Bühne in unaufhörlicher Bewegung ist. Ob Karl als missratener Gymnasiast, der in Not geraten ist, am Ende wirklich den rechten Weg findet, bleibt in dieser Inszenierung allerdings offen. Die seltsamen Begegnungen auf dem beängstigend unwirklichen Schiff sprechen Bände. Ferdinand Lehmann macht schließlich überzeugend deutlich, wie Karl Roßmann außer sich gerät, sich seiner Kleider entledigt, plötzlich nackt auf der Bühne steht und sich mit Dreck besudeln lässt. Da ist die Welt aus den Fugen geraten. Als Heizer, Herr Pollunder und Robinson versucht Andreas Leupold vergeblich, in die komplizierte Seelenwelt dieses unbeherrschten Jugendlichen vorzudringen, der sich mit seiner Umwelt so schwer tut. Manja Kuhl brilliert als Klara, Therese und Student mit großer Wandlungsfähigkeit. Auch ihr gelingt es nicht, Karl wirklich zu verführen und auf andere Gedanken zu bringen. Moritz Grove überzeugt außerdem als robuster Kapitän, Herr Green, Delamarche und cholerischer Oberkellner, der Karl gehörig den Kopf wäscht und ihn dadurch vielleicht am besten erreicht. Da besitzen die Szenen plötzlich eine explosiv-elektrisierende Präsenz, die nicht nachlässt. Der Onkel Jacob erlöst Karl als "deus ex machina" aus dieser unangenehmen Situation, die bedrohlich zu werden scheint. Dass sich Kafkas Dichtung der rationalen Deutung entzieht, hätte die Inszenierung von Lilja Rupprecht auch noch deutlicher machen können (Mitarbeit Bühne: Annelies Vanlaere; Kostüme: Christina Schmitt). Der Widerstand gegen die Bürokratie kommt allerdings plastisch zum Vorschein. Karl rebelliert heftig gegen das System, aus dem es aber kein Entrinnen gibt. Ob Karl letztendlich in einer glücklichen Welt ankommt, kann auch das Naturtheater von Oklahoma nicht beantworten. Die Aufführung schließt mit einem offenen Rätsel, das vom Publikum aber mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen wird (Bühnenfassung: Lilja Rupprecht).

ALEXANDER WALTHER