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11/26/2013 13:22 published by markus (Admin) in / / United States - #-20131126-27

Von der Dichtkunst selbst

Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist. Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen - die einen auf Grund von Kunstregeln, die anderen durch Übung - und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten: sie alle bewerkstelligen die Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie, und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich. Zum Beispiel verwenden das Flöten- und Zitherspiel- sowie andere Künste, welche dieselbe Wirkung haben, etwa das Spiel der Syrinx - nur Melodie und Rhythmus, die Tanzkunst allein den Rhythmus ohne Melodie; denn auch die Tänzer ahmen mit Hilfe der Rhythmen, die die Tanzfiguren durchdringen, Charaktere, Leiden und Handlungen nach. Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen - Versen, indem sie entweder mehrere Maße miteinander vermischt oder sich mit einem einzigen Maß begnügt -, verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten. Denn wir können keine Bezeichnung angeben, die folgendes umgreift: die Mimen des Sophron und Xenarchos, die sokratischen Dialoge sowie - wenn jemand mit diesen Mitteln die Nachahmung bewerkstelligen will - die jambischen Trimeter oder elegischen Distichen oder sonstigen Versmaße. Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers, und man nennt die einen Elegien-Dichter, die anderen Epen-Dichter, wobei man sie nicht im Hinblick auf die Nachahmung, sondern pauschal im Hinblick auf den Vers als Dichter bezeichnet. Denn auch, wenn jemand etwas Medizinisches oder Naturwissenschaftliches in Versen darstellt, pflegt man ihn so zu nennen. Homer und Empedokles haben indes außer dem Vers nichts Gemeinsames; daher wäre es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter. Umgekehrt muß man jemanden, der Nachahmung bewerkstelligt, selbst wenn er hierbei alle Versmaße miteinander vermischt, wie etwa Chairemon den »Kentauren« als eine aus allen Versmaßen gemischte Rhapsodie gedichtet hat, als Dichter bezeichnen. Diese Dinge lassen sich also auf diese Weise voneinander abgrenzen. Es gibt nun Künste, die alle die oben genannten Mittel verwenden, ich meine den Rhythmus, die Melodie und den Vers, wie z. B. die Dithyramben- und Nomendichtung und die Tragödie und Komödie. Diese Künste unterscheiden sich dadurch, daß sie die genannten Mittel teils von Anfang bis Ende, teils abschnittsweise verwenden. Dies sind die Unterschiede der Künste, die durch die Mittel bedingt sind, mit deren Hilfe die Nachahmung bewerkstelligt wird.