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03/11/2018 12:36 published by Alexander (unknown) in Aachen / Aachen / Germany - #2.1.16.10.1.1.-20180311-1867

Premiere "Der Steppenwolf" nach Hermann Hesse im Schauspielhaus Stuttgart

WELTVERNEINER UND WOLLÜSTIGER SÜNDER

"Meine Seelenkrankheit ist - das weiß ich! - nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit selbst", konstatiert Harry Haller, der "Steppenwolf", ein geheimes Selbstporträt des Autors Hermann Hesse. Der Regisseur Philipp Becker weckt im Bühnenbild von Bettina Pommer und den Kostümen von Katharina Müller verschiedene Bühnenvorhänge zum Leben, die sich optisch immer weiter verkleinern. Eine hübsche und ungewöhnliche Idee. Wolfgang Michalek mimt Harry Haller sehr emotional und eigentlich unberechenbar. So ergibt sich immer wieder eine problematische Selbstanalyse. Das Doppel-Ich des unglücklichen Helden als sensibler Melancholiker und Weltverneiner verändert sich sprunghaft, als er auch noch zum bösen "Steppenwolf" wird. Diese Situation beleuchtet Wolfgang Michalek eindringlich. Es ist eine Generation, die in zwei Zeiten und zwei Lebensstile hineingerät. Dadurch geht ihre Geborgenheit und Unschuld plötzlich verloren. Als einsamer Intellektueller zerreisst sich Harry Haller auch in Philipp Beckers Inszenierung zwischen dem bürgerlich-angepassten Leben und seiner Ausbruchssehnsucht. Der Krieg wird dabei von der Gesellschaft geradezu herbeigesehnt, während Haller in seiner Mansardenwohnung lebt. Ähnlich wie Goethes Faust möchte sich Harry Haller das Leben nehmen - da trifft er auf die schöne und mondäne Hermine, die Viktoria Miknevich als wahrhaft geheimnisvolles und undurchsichtiges Wesen darstellt, das Harry aber gewaltig den Kopf verdreht. Hier eskaliert auch die seltsame Welt des nebelumwobenen "Magischen Theaters". Im "Traktat vom Steppenwolf" erkennt sich Harry Haller wieder. Nacheinander treten Goethe und Mozart auf, ein gewisser Musiker mit Namen Pablo (den Felix Mühlen wandlungsfähig verkörpert) bringt ihm das Figurenspiel der Unsterblichen bei. Die Musik von Johannes Hofmann passt sich hier dem Geschehen an. Zitiert wird von Haller auch das "Steppenwolf"-Gedicht von Hermann Hesse: "Ich Steppenwolf trabe und trabe, die Welt liegt voll Schnee, vom Birkenbaum flügelt der Rabe, aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh!" Die Lebens- und Künstlerkrise wird zur Gesellschaftskrise, die der im Zuschauerraum verteilte Chor grell beleuchtet. Und Mozart verkündet: "Gott befohlen, der Teufel wird dich holen, verhauen und versohlen für dein Schreiben und Kohlen, hast ja alles zusammengestohlen." Dass Hesse erotische Gefühle zwischen Harry Haller und Hermine kaum zulässt, arbeitet auch Philipp Becker minuziös heraus. Die seelische Reinigung Hallers vollzieht sich bei dieser Inszenierung in zuweilen durchaus ironischer Weise. Aber auch das Tragische und Unheimliche wird hier mit hoffmannesker Präsenz wiederholt herausgestellt. So erfährt man zuletzt erschüttert, dass Harry Haller seine Geliebte Hermine erstochen hat, nachdem diese sich ihren Tod auf diese Art und Weise herbeigesehnt hat. Der Chor mit Ruben Dietze, Daniel Gäfgen, Natascha-Carmen Kleins, Belina Nasra Mohamed-Ali, Benedikt Reidenbach, Charlotte Schön, Julian Tresowski und Frederike Wiechmann verbindet sich sehr stark mit dem gespenstisch ausufernden "Magischen Theater". Philipp Becker hat die Schwerfälligkeiten und Requisiten des "Magischen Theaters" nahezu abgeschafft, übrig bleiben hier nur viele Goethe-Büsten, nachdem Harry Haller die erste Büste zertrümmert hat. Gewisse Züge der Anarchie ergeben sich auch aus den Handlungen des verzweifelten Künstlers und Schriftstellers, der an seinem Werk scheitert. Mit einer anderen Goethe-Büste durchbricht Haller schließlich die Bühnenwand. Im Hintergrund erkennt man schemenhaft den Chor in nebliger Atmosphäre. Und da erscheint auf einmal Hermine - geisterhaft und unwirklich. Haller wartet wieder auf Mozart, seinen unerreichbaren Genius. Dazu hört man auch Musik aus "Don Giovanni". Die Härte der Sprache und die Gewalt der Bilder hat der Regisseur Philipp Becker dennoch abgemildert. Das furchtbare Durcheinander unserer Zeit wird dabei auch von den Alten erlitten, um mit Hesse selbst zu sprechen. Für die Aufführung gab es großen Jubel des Publikums. Becker ist es gelungen, den Text Hesses zum Sprechen zu bringen. Dies ist die Stärke dieser Inzenierung (Theaterfassung: Joachim Lux). 

ALEXANDER WALTHER